Szene aus »Havarie« © pong film GmbH

»Havarie« von Philip Scheffner

Bei der Berlinale 2016 war der deutsche Filmemacher Philip Scheffner der einzige Regisseur mit zwei Filmen im Forum-Programm. Einer davon war »Havarie«, der sich auf ästhetisch ganz besondere Art mit Flüchtlingen und Asylsuchenden beschäftigt. Aus einem knapp dreieinhalb Minuten kurzen Youtube-Clip gestaltete er einen 93 Minuten langen Film. Bis 27. Februar 2018 ist er in der Arte-Mediathek zu sehen. Es ist ein radikales Projekt: Im Internet entdeckte der Autor den Clip eines irischen Touristen über die Begegnung eines Kreuzfahrtschiffes mit einem Flüchtlingsboot, das ihn sehr beeindruckte. Eigentlich wollte er das Schicksal der Boots-Flüchtlinge weiterverfolgen. Sie wurden nach eineinhalb Stunden von der alarmierten Küstenwache gerettet, medizinisch versorgt und nach einigen Wochen in einem Lager in Spanien nach Algerien wieder deportiert. Danach verlieren sich ihre Spuren. Das Scheitern des Projektes drohte.

Havarie (Arte-Mediathek)

(Video laut Sender abrufbar bis 27. Februar 2018)

Deshalb entschied Scheffner sich für eine radikale Lösung. Obwohl er mit seinem Team bereits Interviews mit verschiedenen Zeugen dieser Begegnung gedreht hatten, entschieden sie sich, diese nur als O-Ton zu verwenden. Das ursprüngliche Video mit einer Länge von 3:36 Minuten wurde in Einzelbilder zerlegt, die ungefähr jeweils eine Sekunde lang zu sehen sind. Man sieht das blaue Meer, den blauen Himmel und einen schwarzen Punkt, der mal unscharf ist, mal schärfer. Zum Teil erkennt man die Personen auf dem Boot. In einer Sequenz scheint einer von ihnen mit den Händen zu winken. So ist ein 93-minütiger Film entstanden in quasi einer Einstellung. Es ist ein meditatives Ereignis, auf das man sich wirklich einlassen muss. Fast schon ein visueller Höhepunkt ist nach ungefähr einer Stunde ein Schwenk auf das Kreuzfahrtschiff, auf dessen Decks die Touristen in Richtung des Flüchtlingsbootes schauen. Auf der Ton-Ebene gibt es den Funkverkehr mit der Küstenwache, Aussagen der Crew, der Touristen und auch das Schicksal eines anderen Flüchtlings. Leider kann man nicht alle Aussagen eindeutig zuordnen. So erzählt der Ire, der die Aufnahmen gemacht hat, eine Geschichte über die IRA, die in keinem Zusammenhang mit der Situation steht oder eine Zwölfjährige erzählt von der Entführung ihres Vaters durch Terroristen. Dadurch können falsche Assoziationen geweckt werden, was bei einem essayistischen Film immer eine Gefahr sein kann. Scheffner sagte bei der Berlinale 2016, er freue sich übrigens schon darauf, wenn »Havarie« im Nachtprogramm ausgestrahlt wird und die Zapper damit überrascht werden, dass sie immer wieder auf dasselbe Bild stoßen werden. Dieser Moment ist nun gekommenn…
Havarie Dokumentarfilm, D 2015 Regie, Konzept und Schnitt: Philip Scheffner Produktion: pong film GmbH
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Kay Hoffmann
Dr. Kay Hoffmann war langjähriger Studienleiter Wissenschaft im HDF und Gesamtkoordinator des DFG-Projekts „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005“. Zusätzlich ist er seit langem Kurator der DOK Premieren in Ludwigsburg.
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