Berlinale 2018 dokumentarisch (4): Geschlossene Gesellschaften, Kampf um Identität

Die Bären sind vergeben, die Preise abgehakt. Aber unsere Berlinale-Beobachtungen des Dokumentarfilm.info-Autors Kay Hoffmann bietet Nachschlag. Weitere Entdeckungen und Beobachtungen aus dem dokumentarischen Programm der Berlinale 2018: diesmal zu »Al Gami’ya«, »Game Girls«, »Obscuro Barroco«, »Ex Pajé«, »Impreza – Das Fest«, »Hotel Jugoslavija« und »Kinshasa Makambo«

Berlinale 2018 · Der dokumentarische Rückblick

Berlinale 2018: Die Preisträger im Dokumentarfilm (3)

Berlinale 2018: Die Preisträger im Dokumentarfilm (2)

Berlinale 2018: Die Preisträger im Dokumentarfilm (1)


Berlinale 2018 dokumentarisch (5): 1968 und die Folgen, frühe Expeditionsfilme

Berlinale 2018 dokumentarisch (4): Geschlossene Gesellschaften, Kampf um Identität

Berlinale 2018 dokumentarisch (3): Von der Gegenwart der Vergangenheit

Berlinale 2018 dokumentarisch (2): Das Kino lügt, der Sport nicht

Berlinale 2018 dokumentarisch (1): Von Relevanz, Vielfalt, Experimenten


Berlinale dokumentarisch: »Al Gami’ya«

Szene aus »Al Gami'ya« © Reem SalehViele der Dokumentarfilme in den verschiedenen Sektionen der Berlinale boten einen Einblick in geschlossene Gesellschaftsgruppen, die das Publikum meist nicht kennt. Dies gilt beispielsweise für »Al Gami’ya« (What Comes Around) von Reem Saleh. Es geht um ein Armenviertel in Kairo, wo die Bewohner selbst ein System von Kleinkrediten entwickelt haben. Dies ist eher ein internes Verfahren, bei dem man sicher bewerben kann und dann unter Umständen Geld bekommt. Die Regisseurin hat dort sechs Jahre lang gedreht und fängt das Leben in dem Viertel sehr nah ein. Aber für europäische ZuschauerInnen ist es oft sehr laut und hektisch und man hat den Eindruck, nicht alles mit zu bekommen. Da es ein beobachtender Dokumentarfilm ist, wird auch wenig erklärt. Letztlich verschenkt die Regisseurin die Chance, durch die Langzeitbeobachtung bestimmte Entwicklungen nachvollziehbar zu machen. Wie sie in der anschließenden Diskussion offen zugab, ist sie ohne größeres Konzept in den Schnitt gegangen. Dies spürt man in dem Film dann phasenweise auch.

Berlinale dokumentarisch: »Game Girls«

Szene aus »Game Girls« © Alina SkrzeszewskaEbenfalls in einem Armenviertel, nämlich Skid Row in Los Angeles, hat die gebürtige Polin Alina Skrzeszewska, die in Deutschland lebt, über eine längere Zeit Frauen begleitet. Basis für ihren Film “Game Girls” war ein Workshop, bei dem sie mitarbeitete und in dem Frauen ihre schlechten Erfahrungen besprechen konnten. Einige kamen nur ein paar Mal, andere kamen regelmäßig und bildeten die Kerngruppe des Workshops. Aus dieser Zusammenarbeit entwickelte sich der Film, das heißt die Regisseurin baute Vertrauen bei ihren Protagonistinnen auf. Im Mittelpunkt steht ein lesbisches Paar, das man durch seine Hoch und Tiefs begleitet. Auch dieser Film ist lautet und man spürt zum Teil die Aggressivität auf der Straße, aber er bietet doch einen besseren Überblick über ihren Alltag als der Film über Ägypten.

Berlinale dokumentarisch: »Obscuro Barroco«

Szene aus »Obscuro Barroco« © Evangelia KraniotiDie Form eines magischen Essayfilms wählte die in Paris lebende Griechin Evangelia Kranioti für ihre Produktion »Obscuro Barroco« über Rio de Janeiro. Sie arbeitet ebenfalls als Fotografin und Videokünstlerin und will in ihrem Film den Kern der Faszination des Lebens in der brasilianischen Metropole und ihre Verknüpfung mit barocken Formen aufzeigen. Der essayistische Stil ermöglicht die Kombination von magischen Bildern mit poetischen und philosophischen Texten. Bei der Diskussion macht die Regisseurin klar, dass sie belesen ist und mit einem hohen Anspruch an ihren Film herangegangen ist. Im Zentrum steht die Transvestitin Luana Muniz, die eine Ikone der queeren Subkultur Brasiliens ist. In einem schlafwandlerischen Fluss von Filmbildern begibt sie sich in die pulsierende Welt der Nachtgestalten. Ein Bewusstseinsstrom aus dem Underground Brasiliens fließt mitten hinein in den Straßenkarneval der Stadt. Ein Film, der viele begeisterte und zu Tränen rührte. Ihm gelingt es, das pulsierende Leben dort einzufangen.

Berlinale dokumentarisch: »Ex Pajé«

Szenen aus »Ex Pajé« © Pedro J. MarquezWesentlich ruhiger ist »Ex Pajé« (Ex Shaman) von Luiz Bolognesi über den indigenen Stamm der Paiter Suruí, die im Amazonasbecken in Brasilien wohnen. Eigentlich hatte man ihnen ein Gebiet zugewiesen, doch inzwischen haben internationale Konzerne Interesse daran wegen der dort vorhandenen Bodenschätze. Im Gegensatz zu den bisherigen Regierungen schützt die aktuelle die Interessen der indigenen Stämme nicht mehr, sondern die wirtschaftliche Erschließung steht im Vordergrund. In Brasilien leben noch rund 800.000 Menschen mit indigenem Hintergrund. Außerdem wird ihre traditionelle Kultur durch christliche Missionierung bedroht. Ein ehemaliger Schamane, der inzwischen auch christianisiert ist, kämpft um ihre kulturelle Identität, denn er hat schon festgestellt, dass die Stammesangehörigen bei Kopfschmerzen früher zu ihm gekommen seien, inzwischen würden sie Aspirin greifen. Auch er schläft in seiner Hütte inzwischen mit Mosquito-Netz und Luftkühlung. Trotzdem sind die Schamanen noch sehr verbunden mit dem Wald und dem Wasser und setzen auf die übernatürlichen Kräfte des Regenwaldes. Die enge Beziehung zur Natur wollen sie revitalisieren. Der Film entstand relativ schnell innerhalb von vier Wochen und ist sehr poetisch angelegt. Ganz bewusst wurde er im Cinemascope-Format ohne zusätzliches Licht gedreht und ist ein Appell, zusammen die Welt zu verbessern, wie es ein Zuschauer in der Diskussion formulierte.

Berlinale dokumentarisch: »Impreza – Das Fest«

Szene aus »Impreza - Das Fest« © DreifilmDie polnische Gesellschaft verändert sich radikal und rechtspopulistische Strömungen haben die Oberhand gewonnen. Sie lehnen die liberale bzw. als sozialistisch verurteilte Politik der EU ab, nicht nur in puncto Flüchtlinge, sondern ebenso bei der Erziehung und sexuellen Freiheiten. Dies muss Alexandra Wesolowski, die in Deutschland an der HFF München Film studiert, feststellen, als sie zur Goldenen Hochzeit ihrer Tante fährt. Es ist eine gutbürgerliche Umgebung mit einem schmucken Wohnhaus. Alle in ihrer Familie unterstützen die neue Politik und sehen die EU als Sodom und Gomorra. In ihrem Film “Impreza – Das Fest” diskutiert die Regisseurin fleißig gegen deren Argumente an, bleibt damit jedoch völlig allein. Der Film zeigt sehr präzise, wie schwierig es ist, gegen eine bestimmte Weltsicht anzudiskutieren, wenn sich diese gefestigt hat.

Berlinale dokumentarisch: »Hotel Jugoslavija«

Szene aus »Hotel Jugoslavija« © C-Side ProductionsAuch das ehemalige Jugoslawien hat massive Umbrüche erlebt und der Vielvölkerstaat, der unter Marschall Tito zusammengehalten wurde, ist zerfallen und der Krieg hat den Separatismus und die Auseinandersetzung der verschiedenen Volksgruppen beflügelt. Nicolas Wagnières Essayfilm »Hotel Jugoslavija« erzählt sehr geschickt am Beispiel des Belgrader Hotels von der Geschichte und dem Zerfall des Landes. Was ist geblieben von einstigen Idealen wie Einheit, Brüderlichkeit und Kollektivismus? Es geht in diesem Film im Kern ebenfalls um die Identität und Werte einer Gesellschaft. Das Hotel war eine Ikone der Modernität und ein Prunkbau zur Hochzeit Jugoslawiens. Dann stand es lange leer, wurde zum Spekulationsobjekt und inzwischen wurde es renoviert und neben einer Spielbank residieren dort nun einige moderne IT-Firmen.

Berlinale dokumentarisch: »Kinshasa Makambo«

Szene aus »Kinshasa Makambo« © Kiripifilms, Les films de l’oeil sauvageIn der Volksrepublik Kongo will der langjährige Präsident Kabila durch eine verfassungswidrige Amtsverlängerung an der Macht bleiben. Dagegen gibt es heftige Proteste der Bevölkerung, die von der Polizei oft brutal niedergeschlagen werden. Der afrikanische Regisseur Dieudo Hamadi, der im vergangenen Jahr mit »Mamman Colonelle« überzeugen konnte, porträtiert nun in »Kinshasa Makambo« drei Akteure dieses Widerstandes. Ben kehrt dafür aus dem New Yorker Exil zurück – gegen den ausdrücklichen Wunsch seiner Eltern. Jean Marie, gerade aus dem Gefängnis entlassen, hört nicht auf, in der Öffentlichkeit für die Freiheit seines Landes zu werben, und wird vom Geheimdienst verfolgt. Christian kämpft unbeirrt auf den Straßen Kinshasas, selbst nachdem Etienne Tshisekedi, der ehemalige Premierminister und Hoffnungsträger der Opposition, stirbt und die Bewegung gegen Kabilas Amtsverlängerung wie erstarrt scheint. Kampf aus dem Exil heraus oder vor Ort? Gewaltfrei oder notfalls mit Gewalt? Konsequent mit Handkamera gefilmt, immer dicht dran und zum Teil unter gefährlichen Bedingungen verhandelt Dieudo Hamadi die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Formen des Widerstands. Ein sehr mutiger und packender Film mitten aus dem Kampf.