Sergei Loznitsa im Interview © HDF

Interview mit Sergei Loznitsa: „Ich will zum Nachdenken anregen.“

Mit „Maidan“ hat Sergei Loznitsa 2014 die revolutionären Veränderungen in der Ukraine begleitet, die sich inzwischen als historisch erwiesen haben. Kay Hoffmann hat mit ihm über den Film und seine persönliche Einschätzung der politischen Lage gesprochen.

Sergei Loznitsa wurde in Weißrussland geboren und wuchs in der Ukraine auf. Nach einem Mathematikstudium und der Arbeit als Ingenieur studierte Sergei Loznitsa an der Moskauer Filmhochschule, die er 1997 abschloss. Seit 2001 lebt er mit seiner Familie in Deutschland. In seinen Spiel- und Dokumentarfilmen beschäftigt sich Loznitsa oft mit der Lage in Russland und historischen Themen. Seine Produktionen sind auf internationalen Festivals gelaufen und haben zahlreiche Preise gewonnen.

Russische Identität und historische Verantwortung

Den Alltag der russischen Bevölkerung auf dem Land stellte er in den Mittelpunkt von „Das Porträt“ (2002) und von Fabrikarbeiter:innen in „Die Fabrik“ (2004). In „Blockade“ (2005) nutzte er historische Archivaufnahmen der Einkesselung Leningrads durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg und wurde dafür mit einem russischen Nika Filmpreis ausgezeichnet. Den touristischen Alltag im Konzentrationslager Auschwitz heute zeigte er in „Austerlitz“ (2016) in Schwarz-Weiß-Bildern in festen Einstellungen. Die feierliche Zeremonie zum Ende des Zweiten Weltkriegs am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park in Berlin dokumentierte er in „Tag des Sieges“ (2018). Einen stalinistischen Schauprozess griff „Prozess“ (2018) auf – zu Grunde lag entsprechendes historisches Filmmaterial. Die offiziellen Filmaufnahmen vom Staatsbegräbnis Josef Stalins 1953 kompilierte Loznitsa 2019 zu dem Film „State Funeral“ und konnte so Alltagskultur der Bevölkerung zeigen, die in der Sowjetunion selten aufgenommen wurde. In „Babyn Jar. Kontext“ (2021) ging es um das Massaker der Deutschen Armee 1941 an fast 35.000 Juden in der Nähe von Kiew.

Filmstill aus "Maidan" © Grandfilm

Dokument des revolutionären Umsturzes in Kiew

Von Dezember 2013 bis Februar 2014 dokumentierten Sergei Loznitsa und sein Kameramann Serhiy Stefan Stetsenko die Proteste der Bevölkerung auf dem Maidan, dem zentralen Platz in Kiew. Sie führten zur Loslösung der Ukraine vom russischen Einflussbereich und ihrer nationalen Befreiung. „Meine Helden sind die Menschen aus der Ukraine“, betont Sergei Loznitsa im Interview mit Kay Hoffmann vom Haus des Dokumentarfilms. „Wer die Ukrainer:innen verstehen möchte, die ihre Würde bewahren wollen, indem sie weiter im Land bleiben, und dafür sogar ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, findet in meinem Film wichtige Anhaltspunkte.“

Der Film ist überwiegend in langen statischen Totalen aufgenommen, was den Zuschauer:innen die genaue Beobachtung der Vorgänge und eine eigene Meinung ermöglicht. „Man sollte mir nicht vorwerfen können, dass ich Propaganda mache“, erklärt er und verweist auf die Möglichkeit, im Schnitt bewusst Dinge wegzulassen oder zu betonen, um so die Gewichtung zu verschieben. Diese langen Einstellungen gehören zu seinem Konzept in vielen seiner Filme, sind sozusagen zum Markenzeichen geworden. „Ich liebe es einfach, die Leute zum Nachdenken anzuregen. Vielleicht kommt das daher, weil ich so lange in Russland gelebt habe. Dort waren fast alle Dokumentarfilme propagandistisch und der Kommentar sagte einem, wie man die Welt zu sehen hatte, was richtig oder falsch ist.“

Filmstill aus "Maidan" © Grandfilm

Durch den russischen Angriff auf die Ukraine hat „Maidan“ an Aktualität gewonnen und wird bundesweit in Kinos gezeigt. Die Termine sind auf der Homepage des Verleihs Grandfilm aufgeführt.

Westliche Verantwortung für die Ukraine

Im Moment sieht Sergei Loznitsa den Westen und die Nato in der Verantwortung, den russischen Krieg gegen die Ukraine militärisch zu beenden. Denn anders ließen sich die Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die Zerstörung ganzer Städte nicht stoppen. „In Situationen wie diesen ist es unmoralisch, wenn man sich raushält und dabei zuschaut, wie russische Truppen ukrainische Bürger töten und Städte wie Mariupol dem Erdboden gleichmachen“, führt er im Interview mit Kay Hoffmann aus. Auf der anderen Seite stellt er sich gegen die pauschale Verurteilung von Russen, die nicht alle Putins Aggressionspolitik zustimmen würden. Deshalb wurde er Anfang der Woche aus der Ukrainischen Filmakademie herausgeworfen.

In seinem aktuellen Film, den er gerade montiert, geht es um die Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg, um die deutsche Bevölkerung zu zermürben. Er fragt nach der Legitimität solcher zerstörerischen Militärstrategien.

Filmstill aus "DONBASS" © PyramideFilms

Benefiz in Ludwigsburg zeigt „Maidan“ und „Donbass“

Im Rahmen der Benefiz-Veranstaltungen „No More War!“ in Ludwigsburg, die die Filmakademie Baden-Württemberg, der Förderverein der Filmakademie, Kinokult e.V. und das Haus des Dokumentarfilms organisieren, werden im Ludwigsburger Caligari Kino Loznitsas Dokumentarfilm „Maidan“ am 2.4.2022 um 15 Uhr und sein Spielfilm „Donbass“ (s. Bild oben) am 3.4.2022 um 19.45 Uhr vorgeführt. Reservierung auf www.kinokult.de.

(Kay Hoffmann/Elisa Reznicek)

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