Überraschungen des Lebens im Fokus der dokumentarischen Kamera

Wie real ist das, was uns der Dokumentarfilm für echt vorsetzt? Eine Diskussion, die nicht erst durch jüngste Ereignisse rund um den Spiegel und den WDR geführt wird, sondern schon in der ersten Sekunde der Filmgeschichte hätte beantwortet werden müssen. Auch in der DOK Premiere von »Berlin Excelsior«, einem sehenswerten Dokumentarfilm von zwei jungen Filmemachern über Bewohner eines Hochhauses, war der Wunsch spür- und hörbar, sich über Authentizität und Inszenierung sowie über die Verantwortung des Filmenden für seine Protagonisten auszutauschen. Die wichtigste Aussage in dieser Hinsicht: Es lässt sich nicht immer alles realisieren, was geplant war; und nicht alles, was gefilmt wird, war auch so vorausgedacht.

In Peter Rommel, einem ebenso erfahrenen wie engagierten Profi, haben die jungen Filmemacher Erik Lemke und André Krummel wohl einen geduldigen Produzenten gefunden. Über drei Jahre hinweg durften die beiden Autoren von »Berlin Excelsior« Aufnahmen produzieren und dann auch eine längere Post-Produktionsphase realisieren. Dabei hatte sich Peter Rommel, wie bei der DOK Premiere im Ludwigsburger Kino Caligari zu hören ist, von dem Film zunächst etwas ganz Anderes erhofft. Nämlich die Dokumentation eines Hochhauses, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner zu einer neuen, vielleicht sozialeren Form des Zusammenlebens finden. »Das ließ sich dann aber nicht so realisieren«, sagt Erik Lemke. Und schon ist man mittendrin in der Diskussion darüber, was man überhaupt in einem Dokumentarfilm realisieren kann. Ist hier nicht eigentlich alles dem Zufall überlassen, wird hier nicht das Leben einfach so gezeigt, wie es ist oder sich ereignet hat?

Der Film handelt von einem Hochhaus in Berlin, dem Excelsiorhaus, das an einem historisch wichtigen Ort direkt neben dem Anhalter Bahnhof in Berlin steht – bis zum Fall der Mauer direkt an selbiger, seither in einer Art neuem Zentrum Berlins, das erst zu einem heranwachsen muss. In den sechziger Jahren wurde das Haus dort als Luxustraumobjekt eines neuen Wohnens realisiert, doch bald schon fehlte es an Geld. Die geplanten 25 Stockwerke wurden auf 17 reduziert, ein geplantes Schwimmbad und ein Hubschrauberlandeplatz nie realisiert.

Der Betonklotz ist nach vielen Jahren und Besitzerpleiten heute zwar kein heruntergewirtschaftetes Abrissobjekt, aber auch kein Vorbild für Wohlfühlwohnen. Der Besitzer des Hauses heißt mittlerweile Nicolas Berggruen. Das ist jener Großinvestor, der durch seinen Einstieg bei der Warenhandelskette Karstadt vor ein paar Jahren aus den Schatten trat, die Figuren des globalen Finanzjongleuren-Ensembles gleichsam zu umgeben scheint wie das Scheinwerferlicht den Zirkusartisten. Den Zustand des Hauses beschreibt Filmemacher Erik Lemke, der selbst im Exceslsiorhaus auf 32 Quadratmetern wohnt, die mittlerweile neu für 700 Euro warm vermietet werden, als »nicht heruntergekommen«, aber zugleich auch als »Objekt der Gewinnmaximierung«.

Wie geht es den Protagonisten, wenn ihr Leben im Film gezeigt wird?

In diesem »vertikalen Dorf«, wie André Krummel sagt, sind die Menschen in rund 500 kleinen Wohnungen untergebracht. Rund 80 von ihnen waren bereit, an den Drehaufnahmen mitzuwirken; etwa 40 tauchen auch im Film auf, aber oft auch nur in kleinen Erzählpausen und athmosphärischen Kurzstories. An drei Haupt-Protagonisten bleiben die beiden Filmemacher dran und schildern eine gewisse Entwicklung.

Da ist zum Beispiel Claudia, die mit Fotoaufnahmen hofft, an ihr Leben als Showgirl wieder einen Anschluss zu bekommen. Michael wiederum hat früher als Escort gearbeitet und treibt heute als Endvierziger das einsame Leben eines Mannes, der seinen Körper auf knackige 30 getrimmt hat, aber in seiner jugendlichen Körperfixierung beinahe manisch zu verharren scheint. Norman schließlich hat sich im Beruf des Erziehers krank schreiben lassen und hofft, mit einem Startup sowohl viel Geld zu machen als auch Anerkennung einzufahren – seine Coachingfirma »ChangeU« kommt aber nicht in die Gänge. Alle drei Protagonisten verbindet eine auf Äußerlichkeiten gerichtete Fixierung, die sich im Spiegelbild und in den Aufnahmelinsen ihrer Handys zum Gradmesser ihres Erfolges und zugleich zum Beweis ihres Misserfolges machen.

Dem Film gelingt es schnell, beim Publikum eine emotionale Verbindung zu diesen Protagonisten aufzubauen – allerdings ist hörbar im Kinosaal da auch Belustigung mit dabei. Das wirft im anschließenden Gespräch – geleitet von Kay Hoffmann, Filmexperte im Haus des Dokumentarfilms – schnell die Frage auf, ob die Gefilmten die Zuschauerreaktionen immer ertragen können. Erik Lemke bestätigt: »Man hat immer eine Verantwortung gegenüber den Protagonisten.« Und er schildert, was sie unternommen haben, um die Protagonisten an den fertigen Film heranzuführen. Gemeinsame Vorstellungen zum Beispiel nur für die Protagonisten. »Es ist wichtig, ihnen dann auch zu erklären, wieso man etwas genau so im Film hat«, berichtet Lemke, »und aus dem Publikum gibt es auch immer wieder Zustimmung dafür, dass sie sich so weit geöffnet haben.« Sein Freund und Kollege André Krummel fügt hinzu: »Man klärt aber schon auch schriftlich ab, was alles gefilmt wird.«

Das lange Warten auf den richtigen Moment

Aber wie geplant können Aufnahmen bei Dokumentarfilmen schon ablaufen? Es ist, wenn man den sehr offenen Berichten der beiden jungen Filmemacher folgt, eine Mischung aus geplantem Warten auf den richtigen Moment und zuvor abgesprochenen Beobachtungen, die aber nicht ins Inszenierte abrutschen dürfen. Eine Szene, die auch im Film eine ganz besondere Stellung hat, verdeutlicht das sehr gut. Dabei beobachtet die Kamera schon fast intim, wie ein junges Ehepaar sich in ihrem Bett vor dem Einschlafen noch einmal etwas Nettes sagt. Fünf Stunden, berichten Lemke und Krummel, haben sie zu zweit »mit ganz wenig Technik« auf diesen Moment gewartet. Und natürlich hätten alle gewusst, was sie erreichen wollten – aber das habe man dann nach fünf Stunden auch vergessen. »Wir wurden zu Möbeln«, witzelt André Krummel.

Auf eine andere Szene hätten sie ein Jahr lang gehofft, aber der Wohnungsmieter habe immer wieder die Aufnahmen verschoben. An einem Abend seien sie mit ihm dann einfach mitgegangen und hätten trotz des schlechten Lichts die Szene filmen können. Diese sei eigentlich überflüssig, aber doch auch wegen der Vorgeschichte wichtig.

Das Warten auf den richtigen Moment ist die elementare Arbeit des Dokumentarfilmers. Der Zuschauer sieht nur ihn, diesen Moment, aber die lange Zeit, die es brauchte, um ihn einzufangen, die wird ja nie gezeigt. Wer als Filmender da abkürzen will und das Leben inszeniert, ist schon nicht mehr dokumentarisch unterwegs.

Deutlich wird in dem Filmgespräch, das sich zu einer Fragestunde über die Ethik des Dokumentarfilms entwickelt, dass bei der Arbeitsweise, die letztlich zu »Berlin Excelsior« geführt hat, viele Stunden Material gar nicht in den Film gelangten. Die Konzentration auf drei Hauptpersonen entstand wohl erst im Schnitt. Spätestens dort hat man auch die richtige Entscheidung getroffen, keinen Off-Kommentar zu nutzen. Den beiden Filmemachern ist es dennoch gelungen, sowohl die Historie des Hauses wie die Architektur informativ und sehenswert in Szene zu setzen.

Letztlich sei so ein Haus, sagt Erik Lemke, ein Mikrokosmos für sich. Ihre filmische Reise durch das Berlin-Excelsior-Universum ist allerdings weniger eine kartografische Herkulesarbeit, als vielmehr eine Observation der hellsten Sternbilder. Zum Glück haben sie sich für die Fixsterne entschieden.

Der Wunsch, mehr zu erfahren, als der Film gezeigt hat

Über ihre drei Haupt-Protagonisten wissen sie beim Filmgespräch im Caligari Neues zu berichten und stillen damit ein bisschen jene Neugier, die der Zuschauer zwar berechtigterweise haben kann, aber die ihm eben doch auch verwehrt werden muss. Auch ein Dokumentarfilm endet mit der Abblende und die Protagonisten werden wieder zu Menschen außerhalb des Filmes. Alles, was darüber hinaus ginge, wäre eine (zu verhandelnde) Langzeitdokumentation – oder ein Abrutschen in die Doku-Soap.

Es gibt eine Verantwortung des Filmers. Aber auch eine, die der Zuschauer hat. Es wird nicht alles gezeigt, was gefilmt wurde. Und es darf nicht alles eingefordert werden, was man filmen könnte.