Romani Rose (Foto: ZDF/Rainer Komers)

Zwischen Trauma und Selbstbehauptung – Die Widerstandskraft der Sinti und Roma

Am 2. August 2022 ist der Europäische Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. Aus diesem Anlass empfiehlt die Redaktion vom Haus des Dokumentarfilms mehrere Dokus über die leidvolle Geschichte einer Minderheit, die sich trotz anhaltender Diskriminierung behauptet.

3sat zeigt zwei Dokumentarfilme von Peter Nestler am 25. Juli 2022 in Erstausstrahlung ab 22:25 Uhr.

„Unrecht und Widerstand – Romani Rose und die Bürgerrechtsbewegung“

Peter Nestlers Film zeigt die leidvolle Geschichte einer Minderheit, die sich stetig zwischen Trauma und Selbstbehauptung bewegt. Im Nationalsozialismus sowie über die gesamte Nachkriegszeit bis in die Gegenwart erfuhren Sinti und Roma viel Gewalt. Nur dank der Bürgerrechtsbewegung erhielt diese marginalisierte Gruppe die Anerkennung, die sie verdient. Die Idee für sein Werk “Unrecht und Widerstand” (2022) lieferte schließlich Romani Rose, auf den Peter Nestler in einer Pause bei der Internationalen Konferenz „Antigypsyism and Film“ im Jahr 2018 traf. Der Filmemacher hielt eine Rede mit dem Titel „Ohne moralische Haltung ist das Filmemachen wertlos“. Im Gespräch erklärte Romani Rose, dass man die Bestrebungen der Bürgerrechtsbewegung filmisch festhalten solle. Der Dokumentarfilmer, der sich bereits zuvor mit der Thematik in seinem Film „Zigeuner sein“ (1970) beschäftigte, fand die Idee „gut und wichtig“, so Nestler im Interview mit Udo Bremer von 3sat. Schließlich arbeitete er mit seinen Kollegen und ebenfalls Filmschaffenden rund drei Jahre an „Unrecht und Widerstand“.

Zentral in Nestlers filmischer Beobachtung sind Romani Rose, seine Familie und seine Mitstreiter:innen. Romani Rose ist seit 1982 Vorsitzender im Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.

13 Verwandte der Roses wurden in Lagern der Nationalsozialisten umgebracht. Oskar, der Vater von Romani Rose, wurde damals von der Gestapo gesucht, konnte jedoch untertauchen. Der Film „Unrecht und Widerstand“ thematisiert sowohl sein mutiges Handeln als auch sein Scheitern.

Der Weg raus aus der Rechtslosigkeit

Sinti und Roma BewegungFür Sinti und Roma, die den systematischen Völkermord überlebten, gehörten Ausgrenzung, Armut und Schikanen durch die Behörden zum Alltag. Der begangene Genozid an der Minderheit, „Porajmos“ genannt, wurde erst im Jahr 1982 offiziell anerkannt. Der Filmemacher Peter Nestler resümiert den schwierigen und weiten Weg heraus aus der Rechtlosigkeit und Diskriminierung hinein in die Bürgerrechtsbewegung. Die Bewegung zeigt eine starke Perspektive: ihre unermüdliche Hingabe offenbart Zivilcourage und Bürgersinn. Sie stehen vehement für das Miteinander diverser Kulturen und ein richtungsweisendes Demokratieverständnis ein.

Zur Machart des Films

Nestler arbeitet mit vielfältigem Archivmaterial und versieht „Unrecht und Widerstand – Romani Rose und die Bürgerrechtsbewegung“ mit Kommentaren von Expert:innen. Den Rahmen der filmischen Beobachtung bildet das Gespräch mit Romani Rose, der über seine Familiengeschichte und seine Erfahrungen als Bürgerrechtler spricht.
„Unrecht und Widerstand“ wird am 25. August 2022 um 22:25 Uhr auf 3sat erstmalig ausgestrahlt.

Dokumentarfilmregisseur Peter Nestler drehte bereits im Jahr 1970 „Att vara zigenare“ („Zigeuner sein“) im Auftrag des schwedischen Fernsehens. Es war der erste Film, der die der Minderheit angehörigen Menschen selbst zu Wort kommen ließ und nicht nur über sie sprach. 52 Jahre später legt Nestler in „Unrecht und Widerstand“ dar, wie persistent Klischees und Feindbilder gegenüber Sinti und Roma in der Geschichte der Bundesrepublik bestehen blieben.

Filmemacher Peter Nestler
Dokumentarfilmer Peter Nestler

Peter Nestler gehört seit den 60er Jahren zu den bekanntesten deutschen Dokumentarfilmregisseur:innen. Er lebt seit den 70er Jahren in Schweden, realisierte aber weiterhin für deutsche Sender sowie das schwedische Fernsehen Dokumentarfilme. Sein letztes Werk „Picasso in Vallauris“ (2021) drehte er für das Museum Ludwig in Köln. Zuvor realisierte er für ZDF/3sat die Filme „Flucht“ (2000), „Die Verwandlung des guten Nachbarn“ (2001) und „Fremde Kinder: Mit der Musik groß werden“ (2003). Letzterer behandelt ebenfalls die Thematik der Sinti und Roma. Der Film blickt auf das zwölf Jahre alte Roma-Mädchen Brigitta und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Tünde. Beide spielen seit ihrem fünften Lebensjahr Geige, wie schon Vater und Großvater zuvor.
Der Film wird am 26. Juli 2022 um 2:35 Uhr auf 3sat ausgestrahlt.

„Der offene Blick“

„Der offene Blick – Künstler und Künstlerinnen der Sinti und Roma“ (2022) wird am 25. Juli 2022 um 00:20 Uhr auf 3sat gesendet. Peter Nestlers Film entstand im Rahmen der Arbeit an „Unrecht und Widerstand“.

Im Dokumentarfilm werden Künstler:innen, die der Minderheit der Sinti und Roma angehören, vorgestellt. Sie verarbeiten in ihren Werken Verfolgung und Trauma sowie persönliche Erfahrungen. Dabei greifen sie auf verschiedene Mittel und Werkzeuge zurück. Ihre große Gemeinsamkeit dabei ist der offene Blick. Peter Nestler gelingt es diesen Blick zugänglich und erfahrbar zu machen. Er verzichtet auf feste kulturelle Zuschreibungen und begegnet den Künstler:innen deshalb nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe.

Ausgangspunkt für diesen Film von Peter Nestler ist, ebenso wie in „Unrecht und Widerstand“, die Leidensgeschichte der Sinti und Roma zu Zeiten des „Dritten Reichs“, diesmal im Nachbarland Österreich.

Trauma und Erinnerung – Wie Kunst helfen kann

Autorin Gitta Martl und ihre Tochter Nicole Seyik lesen Texte, in denen sie der Sinti und Roma im oberösterreichischen „Zigeuneranhaltelager“ Weyer gedenken. Eine Reihe von 32 Farbdias ist das Einzige, was von diesen Menschen übrigblieb. Zuvor von Dr. Alois Staufer im Frühjahr 1941 fotografiert, wurden die Abgebildeten ein halbes Jahr später nach Polen deportiert und getötet. Der österreichische Schriftsteller Ludwig Laher rekonstruierte minutiös in einer knapp 20 Jahre langen Recherche die Lebenswege der Opfer und Täter.

Schriftstellerin Ceija Stojka
Schriftstellerin Ceija Stojka

Die österreichische Schriftstellerin, Malerin, Sängerin und Aktivistin Ceija Stojka (1933-2013) überlebte die nationalsozialistischen Konzentrationslager Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen. Weltweit wurden ihre Bilder in Galerien und Museen ausgestellt. Sie erschuf eigene Ausdrucksformen, kreierte Traumata und Erinnerung zu einem „Oratorium gegen das Vergessen”. Die Filmemacherin Karin Berger, die auch eine enge Freundin Stojkas war, begleitete das Schaffen als Freundin und Mentorin im Verlauf von zweieinhalb Jahrzehnten. Mit ihren Dokumentarfilmen „Ceija Stojka – Porträt einer Romni“ (1999) und „Unter den Brettern hellgrünes Gras“ (2005) erinnert sie an die außergewöhnliche Frau.

Weitere Künstler:innen wie der Schriftsteller und Roma-Aktivist Samuel Mágó sprechen über Stojka als großes Vorbild für ihre Generation. Im Kontext dazu steht der Exkurs der Filmwissenschaftlerin Radmila Mladenova zu antiziganistischen Klischees in der Filmgeschichte seit D. W. Griffith. In dem Exkurs geht es darum, dass diesen Klischees Fotografien entgegengestellt werden, die Sinti und Roma mit einem „egalitären Blick“ darstellen.

Künstlerin Lita Cabellut
Künstlerin Lita Cabellut

Im Film erzählt die spanische Künstlerin Lita Cabellut von ihrer Arbeit als Art Director an einem Film von Carmen Chaplin über den vermuteten Roma-Hintergrund ihres weltberühmten Großvaters Charlie. Cabellut selbst ist Angehörige der Minderheit Sinti und Roma. Sie wuchs in prekären Verhältnissen im spanischen Aragon auf, ehe sie im Alter von zwölf Jahren von einer katalanischen Adelsfamilie adoptiert wurde. Mittlerweile lebt sie in Den Haag. Sie ist bekannt für ihre realistischen, großformatigen Gemälde im Stil einer zeitgenössischen Variation der Freskotechnik.

Die letzten Jahre zeigen: Es vollzog sich ein positiver Wandel im Sinne einer kulturellen Selbstbehauptung für Künstler:innen, die der Minderheit der Sinti und Roma angehören. Die Stiftung und Galerie Kai Dikhas bietet mit mehr als hundert Ausstellungen ein fortbestehendes Forum.

Ausschnitte eines Konzerts der „Roma und Sinti Philharmoniker“ umranden den Dokumentarfilm. Das Stück „Requiem für Auschwitz“ von Roger Moreno-Rathgeb wird erstmalig aufgeführt. Beim „Morgenland Festival Osnabrück“ konzertierte das Philharmonie-Orchester mit der Performerin Iva Bittová, dem Cymbalisten László Rácz und dem Violinen-Virtuosen Roby Lakatos unter der Leitung von Riccardo M Sahiti.

Außerdem präsentiert der Sender in der 3satMediathek ein Konzert der „Roma und Sinti Philharmoniker“ vom „Morgenland Festival Osnabrück“ vom November 2021.

Nestlers Dokumentarfilme sowie die Musikbeiträge sind bereits ab Sonntag, 24. Juli 2022, 22:25 Uhr, für 90 Tage in der 3sat Mediathek verfügbar.

Anmerkung der HDF Redaktion: Der Begriff „Zigeuner“ ist eine mit Vorurteilen überlagerte Fremdbezeichnung, die von der Mehrheitsgesellschaft verwendet wird. Diese Bezeichnung wird von den meisten Angehörigen der Sinti und Roma als diskriminierend aufgefasst und abgelehnt. Eine ausführliche Erklärung und weitere Informationen zum Thema und den Begrifflichkeiten finden Sie auf der Homepage des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
image_pdfAls PDF speichernimage_printDrucken
Salome Hanselmann
Salome Hanselmann schreibt Doku-Tipps fürs lineare TV-Programm, Mediatheken und Streaming-Portale, stellt dokumentarische Podcasts vor und betreut die Social Media Kanäle mit.
Facebook
Twitter