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So war die DOK Premiere im Dezember: »Erde«

Trotz der Vorweihnachtszeit stieß die DOK Premiere „Erde“ von Nikolaus Geyrhalter aus Wien auf großes Interesse. Geyrhalter hat sich durch eine eigene Handschrift in Filmen wie „Unser täglich Brot“ (2005), „Abendland“ (2011), „Homo Sapiens“ (2016) oder „Die bauliche Maßnahme“ (2018) einen Namen gemacht.

Es geht ihm oft um das Verhältnis von Mensch und Natur und gesellschaftliche Zustände. Visuell arbeitet er mit wohl arrangierten Plansequenzen im Breitwandformat, verzichtet gänzlich auf Kommentar und Musik.Die Zuschauer können sich auf das Bild, die O-Töne und die Interviews konzentrieren. Dies klingt puristisch, funktioniert im Kino jedoch sehr gut. Im Caligari lief „Erde“ in 4K-Auflösung mit dem Athmos-Tonsystem, dass die verschiedenen Tonspuren auf zahlreiche Lautsprecher im Raum verteilt. Da dies System immer etwas anders reagiert, wird jede Vorführung zu einem einzigartigen Erlebnis. Eine aufmerksame Zuhörerin fand das Vogelgezwitscher etwas zu dominant; einen Eindruck, den Geyrhalter bestätigte.

Wir leben inzwischen in einem Zeitalter, in dem der Mensch die Erde aktiv gestaltet und ständig bestrebt ist, sich den Planeten untertan zu machen. Nikolaus Geyhalter besucht sieben solcher Stätten des Tage- und Tiefbaus in Europa und Nordamerika. Dem Film gingen intensive Recherchen seines Teams voraus, um Unternehmen zu finden, die eine Drehgenehmigung gaben. Die meisten sagten ab. Welche Orte es letztlich waren, war ihm persönlich dabei egal. Ihm ging es darum, verschiedene Aspekte abzudecken wie Abbau von Kohle, Ölsand, Marmor und Kupfer, den Bau einer neuen Stadt oder der Brenner-Tunnelbau für die Beschleunigung des Bahnverkehrsdurch durch die Alpen. Eine gewisse Sonderrolle nimmt der Salzstock Asse ein, bei dem in den 1970er und 1980er Jahren Fässer mit Atommüll als vermeintlich sicher Lösung eingelagert wurden. Dies hat sich inzwischen als Fehler erwiesen und der zum Teil wahrlos abgekippte Atommüll soll wieder herausgeholt werden. Eigentlich war geplant, ein Kapitel über Saugschiffe zu drehen, die mit dem Sand neues Land aufschütten. Aber zur Drehzeit gab es von den Unternehmen keine aktuellen Arbeiten.

Auf den sieben Baustellen hat er wieder beeindruckende Bilder gedreht und dabei spürt man seine Erfahrung als Fotograf, die richtigen Einstellungen zu finden und zu wählen. Beeindruckend sind seine Interviews mit den Arbeitern und Ingenieuren, denen oft sehr klar ist, was sie der Erde antun und dass es eigentlich nicht so weitergehen kann mit der Ausbeutung. Einige wählen fast schon poetische Metaphern, wenn sie vom Berge versetzen sprechen oder den Bergen die Unschuld zu rauben. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sollen zum Nachdenken angeregt werden und keine fertigen Antworten und Lösungen präsentiert bekommen.

Wie gut dies funktioniert bewies das angeregte Filmgespräch nach der Vorführung, bei der Nikolaus Geyrhalter sehr offen diskutierte. Bei „Erde“ war er als Produzent, Regisseur und Kameramann aktiv. Dies ist für ihn eine ganz natürliche Mehrfachbelastung, da er mit einem möglichst kleinen Team drehen will und an den Drehorten sehr schnell die besten Kameraeinstellungen entdeckt. Es gibt vor Ort keine Vorrecherchen und Vorgespräche, sondern das Team reist erst zum Dreh an. Sie waren beispielsweise fünf Tage auf der Großbaustelle in Kalifornien, wo auf einer Fläche von 2.000 Hektar eine neue Stadt aus dem Boden gestampft und aus Profitinteressen massiv in die Landschaft eingegriffen wird. Jedes der sieben Kapitel – die Zahl 7 wurde nicht bewusst gewählt, jedoch kommt ihr in der westlichen Welt eine besondere Bedeutung zu – wird mit einem Establishing Shot von oben eröffnet, der die Dimension des Projektes verdeutlicht. Diese wurden mit einer Drohne gedreht und nachträglich in der Postproduktion stabilisiert. Nur beim Abbau von Ölsand in Kanada, wo er keine Drehgenehmigung bekam, half er sich mit anderen Mitteln wie einem nachträglich animierten Satellitenfoto und Flugaufnahmen aus dem Helikopter. Außerdem interviewte er hier eine Indianerin, die eine ganz andere Perspektive auf den Umgang mit Mutter Erde hat und deshalb auch am Ende des Films steht. Die Reihenfolge der Kapitel ergab sich aus eher logischen Gründen, da er zum Beispiel das Atomlager Asse eher hinten haben wollte. Bei der Kupfermine in Spanien lernten sie am letzten Drehtag den Archäologen kennen, der dort die Fundstellen aus der Römerzeit betreut. Er bietet einen Rückblick auf die Geschichte des Bergbaus, denn schon die Römer bauten hier Silber und Kupfer ab. Zugleich macht „Erde“ deutlich, wie die Technik den Raubbau optimiert hat. Brauchten Arbeiter vor 30 Jahren noch einen Tag, um einen Marmorblock in Carrara zu zerlegen, schaffen sie es heute Dank der Maschinen in einer Stunde. Von der vom Menschen gemachten Technik und ihren immensen Dimensionen geht eine Faszination aus, wenn man ihre zerstörerische Kraft außer Acht lässt. Bei dem Umbau eines Bauernhofes hat Geyrhalter selbst die Erfahrung gemacht, mit einem Bagger zu arbeiten und die Erde aufzureißen. Im Prinzip lassen sich die großen Baumaschinen mit ähnlichen Joysticks steuern. Seine Gesprächspartner beeindruckte, dass er schon selbst solche Erfahrungen gemacht hat. Dies war eine gute Grundlage für Interviews in Augenhöhe. Neben den atemberaubenden Bildern machen sie ein Stück weit die Kraft des Dokumentarfilms „Erde“ aus. Als nächstes will er sich dem Thema Müll nähern und sucht wieder nach großen Bildern.

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Kay Hoffmann
Dr. Kay Hoffmann war langjähriger Studienleiter Wissenschaft im HDF und Gesamtkoordinator des DFG-Projekts „Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005“. Zusätzlich ist er seit langem Kurator der DOK Premieren in Ludwigsburg.
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