Neu im Kino: Haus ohne Dach

Im Jahre 1892 erschien im Freiburger Verlag des Friedrich Ernst Fehsenfeld ein Buch, das viele Jahrzehnte hindurch und vermutlich bis zum heutigen Tag das Bild der Deutschen auf eine Region verklärt hat, von der 125 Jahre später die Wikipedia noch immer seltsam nebulös als »ein nicht genau begrenztes Gebiet in Vorderasien« berichtet. Es war im wahrsten Sinne des Wortes ein weiter Weg: von »Durchs wilde Kurdistan«, ein spannender, aber erfundener Reisebericht des Schriftstellers Karl May, bis zum erfundenen, aber ungemein erhellenden Roadmovie »Haus ohne Dach«. Die junge deutsch-kurdische Filmemacherin Soleen Yuseef, eine Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg, hat ihr weitgehend in Kurdistan spielendes und gedrehtes Spielfilmdebüt in jahrelanger Arbeit realisiert. Nun ist das langsam erzählte, aber wundersam leichte Werk in den deutschen Kinos angekommen. Der Film, das Land und die Regisseurin sind die schönsten Überraschungen dieses späten deutschen Kinosommers.

Kinostart: 31. August 2017

Immer wieder muss Soleen Yusef, als sie dieser Tage dem Stuttgarter Publikum zum Auftakt einer Premierentour ihren Film vorstellte, auf die vielen interessierten Fragen des Publikums darauf verweisen, dass sie sich die Geschichte ihres Filmes ausgedacht habe. Wieso der Dialekt im Film ein anderer sei als jener, der in der Region gesprochen werde, in der die Geschichte zeitweise spielt? Ob es wirklich so sei, dass man einen Leichnam in Kurdistan vergraben könne, wo man das möchte? Die junge Filmemacherin, die in ihrer acht Jahre dauernden Studienzeit an der Ludwigsburger Akademie auch noch einen Dokumentarfilm über den NSU-Prozess realisierte, spürt hier wohl deutlich, dass ihr ein Film gelungen ist, der die Grenzen des Genres diffundieren lässt. Was ist Fiktion, was inszenierter Dokumentarstil? Wo endet die realistische Schilderung des Lebens um der Freiheit der Poesie Platz zu machen?

Auch im Film, 117 Minuten lang und für günstig zu nennende 400.000 Euro als Diplomfilm mit Unterstützung der Akademie und mit Förderung unter anderem durch die MFG Filmförderung und den Südwestrundfunk/Arte realisiert, bleiben Grenzen seltsam unbegreiflich. Es scheint sie irgendwo hinter Bergen zu geben, am Ende einer langen Straße vielleicht. Dort, von wo das Fernsehen berichtet, dass eine Gruppe mit dem Namen Islamischer Staat mit dem Morden begonnen habe. Doch auf weit bedrohlichere Grenzen treffen die drei Geschwister Liya, Jan und Alan, wo immer sie sich bewegen. Und diese Bewegung treibt sie an und vor sich her. Vordergründig, weil sie ihre verstorbene Mutter, ihrem letzten Wunsch entsprechend, gegen den Willen des reichen Onkels an einem Sehnsuchtsort in 600 Kilometern begraben wollen. Bewegung ist nicht nur der Motor ihrer Flucht vor der Familie, sondern das Motiv des Filmes. Die drei versuchen den jeweils anderen, fremd gewordenen Geschwistern zu entkommen – was bekanntlich schwer ist, wenn man eingezwängt in einem klapprigen Familienauto sitzt, auf dessen Laderampe der Sarg mit dem Leichnam der Mutter liegt. Schnell wird deutlich, dass dies ein weiter Weg werden wird.

Als die Reise auf Barrieren innerhalb des Landes stößt, scheint sie an Straßenblockaden und Checkpoints zum Erliegen zu kommen. In diesem Moment will man Soleen Yusef danken dafür, dass sie eben keinen Dokumentarfilm gedreht hat, sondern eine (Sehnsuchts-)Geschichte schrieb. Sie erfindet mit der Kraft der Fantasie und getragen von kurdischer Musik nun ganz andere Wege als jene, die in Straßenkarten verzeichnet sind. Die Autorin und Regisseurin hat für jede ihrer Hauptfiguren eine herrliche Metamorphose vorbereitet, sie dichtet ihnen Wegbegleiter an die Seite, grandios gespielt von kurdischen (Amateur-)Schauspielern. Im Niemandsland finden alle zusammen, um in einer poetischen Kompression das darzustellen, was dieses Land vermutlich am dringendsten braucht: Menschen, die wie Brüder und Schwestern gemeinsam etwas bewegen. Aus Erde und Steinen wird dem Haus Kurdistan ein Dach gebaut. Ob es tragen wird und dicht genug geworden ist?

Mehrfach dankt Soleen Yusef bei der Premiere des Filmes ihrem Team, das sich auf dieses Wagnis Kurdistan eingelassen habe – auf einen Staat, den es gar nicht gibt, auf ein Land, das hierzulande auf das Zerrbild eines imaginären Kurdenstaats reduziert ist.

Kara Ben Nemsis Münchhausen-Reise durchs »wilde Kurdistan« endet mit diesen Worten: »Später sollte es mir allerdings sehr nützlich sein, trotz meines offen gestandenen Unglaubens; freilich konnte ich nicht erwarten, daß der Inhalt ein so überraschender sei.« Der Inhalt von »Haus ohne Dach« ist weit überraschender, als sich das Karl May hätte ausdenken können. In seinem Innern verbirgt dieses Debüt ein Abenteuer, das mit den Flügeln der Fantasie bis zum Schatten eines ur-alten Baumes segelt. Dort, an seinen alten Wurzeln, liegt unter schweren Steinen die Vergangenheit begraben. Die Zukunft erhebt sich, leicht wie eine Feder, in die hitzig flimmernde Luft. Das letzte Bild schenkt Soleen Yusef einem kleinen, gerade geborenen Mädchen. Es heißt wie seine Großmutter.

Haus ohne Dach
Spielfilm, Deutschland/Irak/Katar 2016
117 Minuten
Regie: Soleen Yusef
Mit u.a.: Murat Seven, Sasun Sayan, Mina Özlem Sagdic
FSK: ab 12 Jahren
Produzenten: Mehmet Aktaş (mîtosfilm) und Igor Dovgal (Essence Film GmbH)
Redaktion: Stefanie Groß (SWR), Georg Steinert (ARTE)
Förderung: u.a. MFG Filmförderung
Kamera: Stephan Burchardt
Ton: Bertin Molz
Schnitt: Hannes Bruun
Kostüme: Silvana Ciafardini
Szenenbild: Jalal Saedpanah, Jurek Kuttner
Maske: Hanna Pfeiffer